Der Tod des Changemanagements

„Wie soll ich etwas erreichen, wenn ich gar nicht wissen kann, was genau ich erreichen soll? Die Vorher-Nachher-Differenz löst sich in den innovativen Fluten der Dynamik einer modernen Welt auf. Das ist für Unternehmen eine unglaubliche Herausforderung – für die es aber scheinbar eine Lösung gibt. Und die heißt nicht Changemanagement!“

 

Die Qualität der Pubertät

Erinnern Sie sich noch an die Zeit Ihrer Pubertät? Und wenn ja: Tun Sie das gerne?

Die Pubertät ist ja so eine Sache: Spaß macht sie grundsätzlich keinem der Beteiligten. Aber sie ist notwendig, denn die Pubertät ist das Überschreiten einer Grenze. Hat man die Pubertät hinter sich, so ist eine eindeutige Vorher-Nachher-Differenz festzustellen – so würde es der berühmte Soziologe Niklas Luhmann formulieren. Nachher ist anders als vorher. Das Nachher hat eine andere Qualität als das Vorher. Das ist eine so einfache wie wichtige Unterscheidung.

Auf organisationaler Ebene bezeichnet man die Pubertät als Change. Im Unternehmen strebt man eine Vorher-Nachher-Differenz an: Es soll, es muss sich etwas ändern. Und alle sollen dabei mitmachen – freiwillig und motiviert. Das ist bei der Pubertät anders: Ob man da nun mitmachen will oder nicht, ob man motiviert ist oder nicht: Der Natur ist das einerlei. Wenn Pubertät ist, dann ist Pubertät. Freiwilligkeit spielt dabei keine Rolle.

Und dabei weiß man oft nicht, wie genau dieses Nachher aussehen wird. Aber das in Aussicht gestellte Nachher ist vor allem für Eltern oftmals der einzige Hoffnungsschimmer: Auch wenn das Nachher in diesem Fall nur bedeutet: Hauptsache es ist vorbei.

Für Unternehmen ist es durchaus ähnlich. Diese entscheiden sich zum Beispiel aufgrund von technologischen Innovationen oder neuen Ansprüchen an Qualität dafür, dass sich etwas ändern muss und sie machen sich dann auf den Weg. Und alle Beteiligten hoffen auf das Nachher, auf den Zeitpunkt, wenn alles zu Verändernde abgeschlossen ist und man den neuen Zustand als den neuen gültigen Status Quo erreicht hat. Der Weg dahin ist beschwerlich: in der Pubertät – sofern Sie sich noch daran erinnern wollen, aber auch in den Changeprozessen in Unternehmen.

Grundsätzlich existiert eine bestimmte Unternehmensstruktur und -kultur nicht zufällig, sondern sie hat eine Geschichte. Und umso älter und bewährter diese Geschichte und damit die gewachsene Struktur und Kultur ist, desto schwieriger wird es, diese zu verändern. Dass man dabei neue Organigramme, neue Prozesse, neue Systeme oder andere formale Dinge sozusagen per Dekret – derzeit sehr modern! – installieren kann, das steht außer Frage.

Aber ein Change ist eben viel mehr, als nur neue formale Strukturen. Auch die Pubertät sorgt nicht nur dafür, dass sich, auf das Äußerliche beschränkt, nur der Körper wandelt: Es passiert viel mehr im Inneren des Körpers und vor allem im Kopf. Das ist entscheidend; auch für jedes Unternehmen, welches sich einem Prozess Changemanagement unterwirft. Eine Veränderung hat viele Qualitätsebenen.

Aber die moderne Frage, die sich stellt, ist: Ist Changemanagement überhaupt noch notwendig? Und die provokative Antwort darauf lautet: Nein.

 

Der innovative Mensch und das Changemanagement

Als Sie noch jünger waren, war es da nicht so, dass Sie eine bestimmte Vorstellung von Ihrem Erwachsenenalter hatten? Und das hatten nicht nur Sie, sondern eigentlich war das gesellschaftlich, politisch und auch wirtschaftlich so vorgesehen.

Das Nachher hatte bestimmte Qualitätsdimensionen: Sie waren mit Ihrer Schul- und Berufsausbildung fertig. Und mit „fertig“ ist abgeschlossen gemeint. Sie haben Ihren Partner fürs Leben gefunden, geheiratet und eine Familie gegründet. Sie haben dazu ein Haus gebaut oder sich eine Wohnung gesucht, wo Sie mit Ihrer Familie leben konnten. Und Sie hatten eine Arbeitsstelle, die zu Ihrer Ausbildung passte. Und damit war das Nachher im Großen und Ganzen abgeschlossen. Vorher waren Sie Kind, dann waren Sie erwachsen und die Fakten für Ihr restliches Leben waren geschaffen. Das war Ihr Change. Fertig.

Doch wie wir wissen, ist das schon lange vorbei: Heute haben Sie auch Ihre Berufsausbildung abgeschlossen, aber sie reicht schon lange nicht mehr für den Rest Ihres beruflichen Lebens. Sie sind gezwungen, sich permanent weiterzubilden oder sogar dazu, sich komplett umzuorientieren, da Innovationen Ihr bisheriges Arbeitsfeld komplett obsolet gemacht haben. Es wird von Ihnen Mobilität verlangt – da passt das mit dem einen Haus oder dieser einen Wohnung an einem bestimmten Ort nicht mehr ins Lebenskonzept. Es gilt also auch hier, eine großzügige Change-Bereitschaft zu haben. Dies schlägt sich unter Umständen nicht zuletzt auch auf Ihre Familie nieder, auf Ihre bisherige Familie. Das heißt: Sie lassen sich scheiden und gründen ganz einfach eine neue Familie. Das alles passiert in unterschiedlicher Reihenfolge und immer wieder. Zusammengefasst: Sie changen permanent. Sie und ich: Wir befinden uns – im übertragenen Sinne – in einer andauernden zugegeben weit gefassten Pubertät.

Wie sieht das in Unternehmen aus? Nicht anders!

Unternehmen werden auch erwachsen. Es gibt ja die bekannten drei Phasen eines Unternehmens, die da lauten: Gründungsphase, Betriebsphase und zum Ende die Auflösungsphase. Der Übergang von der Gründungsphase, meistens geprägt von innovativen Ideen, in die Betriebsphase, in der sich die zunächst innovativen Ideen langfristig durch Qualität etablieren müssen, das ist sozusagen die Pubertät des Unternehmens. Hier ist ein wesentlicher Change notwendig – und er muss von jedem Unternehmen vollzogen werden. Die Betriebsphase ist das Erwachsenenalter, welches eigentlich für immer halten sollte. Sollte!

Richard Foster, Wissenschaftler der Yale School of Management, stellte fest, dass Unternehmen vor 100 Jahren durchschnittlich 67 Jahre alt wurden. Gegenwärtig sind es nur noch 15 Jahre. Das ist nicht lange für eine Betriebsphase, wenn man dann die Zeit der Gründungsphase davon auch noch abzieht. Auch wenn diese Feststellung auf US-Unternehmen zutrifft, so kann dieses Ergebnis grundsätzlich auch auf Deutschland, Österreich oder die Schweiz übertragen werden. Die Welt ist volatil, unsicher, komplex und ambivalent; kurz Vuka. (Vuka Vuka 17). Und diese die Unternehmen umgebende Dynamik führt dazu, dass Unternehmen permanent neu entstehen und auch rasch wieder verschwinden.

Unternehmen, die es ins Erwachsenenalter geschafft haben, befinden sich in dem genau gleichen Umfeld. Jedes Unternehmen muss sich permanent – zumindest in Teilen – neu erfinden: in ihren Leistungen, in ihrer Geschäftspolitik, in ihren Zielen, in ihren Prozessen, in ihrer Kultur. Wir Menschen haben eine unbändige innovative Kraft in uns, die uns immer schneller weitertreibt und die uns aber auch selbst einholt. Denn des Bären Balus Vorschlag, es mal mit Gemütlichkeit zu probieren, ist noch aus einer ganz anderen Welt – auch wenn sich viele Menschen immer mehr nach genau dieser Gemütlichkeit zurücksehnen. Gemütlichkeit und Change: Das passt nicht zusammen. Permanente Veränderung heißt Aufwand, Risiko, Mut, Bereitschaft …

Und warum soll Change dann nicht mehr notwendig sein?

 

Turbo-Innovationen und die letzte Tat des Changemanagement

Zugegebener Maßen wird der Begriff der Innovation in höchstem Maße inflationär verwendet. Trotzdem können wir gegenwärtig behaupten, dass wir in einer unfassbar innovativen Zeit leben. Es verändert sich auf so vielen Ebenen so viel, so dass man zum Teil überhaupt nicht mehr abschätzen kann, was auf uns alle zukommt. Wir leben in einer Zeit der Turbo-Innovationen. Die Schlagworte Internet of things, Digitale Transformation, Industrie 4.0, 3D-Druck, Life-Sciences oder autonomes Fahren, und derer gibt es noch viele, lassen einen staunend und manches Mal verwirrt in die Zukunft blicken. Diese Entwicklungen werden die Wirtschaftswelt, aber eben auch jeden einzelnen Menschen mittel- und unmittelbar betreffen. Heraklits „Alles fließt“ war gestern: Heute ist fluten! Wir drehen uns nicht mehr, wir wirbeln. Wir bewegen uns nicht mehr von einem Status zum nächsten Status und haben dazwischen einen Change.

Und deswegen halte ich mittlerweile den Begriff „Change“ und „Changemanagement“ in Bezug auf Unternehmen für überholt. Die Vorher-Nachher-Differenz wird immer uneindeutiger. Der Zustand von Vorher wird immer weniger bestimmbar – weil es ein fließender ist. Und der Zustand von Nachher wird noch viel weniger beschreib- und damit auch kaum mehr beherrschbar.

Wie soll ich etwas erreichen, wenn ich gar nicht wissen kann, was genau ich erreichen soll? Die Vorher-Nachher-Differenz löst sich in den innovativen Fluten der Dynamik einer Vuka-Welt auf. Das ist für Unternehmen eine unglaubliche Herausforderung – für die es aber scheinbar auch eine Lösung gibt: Agilität. Statt Changemanagement.

Das Agilitäts-Postulat ist allüberall zu lesen und hören. Es verspricht (Er-)Lösung. Dabei ist der Begriff der Agilität alt, sogar sehr alt; der Füllgehalt hat sich allerdings vervielfacht und zugleich auch verdichtet. Alle rufen jetzt nach Agilität und nach agilen Organisationsstrukturen. Und nach deren Methoden: Design-Thinking, Scrum, Kanban.

Der Ruf nach Agilität ist berechtigt, aber eben nicht neu. Vor nicht ganz dreißig Jahren war es die Forderung nach der „Lernenden Organisation“, die Peter M. Senge in seinem berühmten Buch „The fifth discipline“ formulierte. Heute ist die Forderung nach der „Agilen Organisation“ – die Grundgedanken bleiben die gleichen. Es kann aber nicht schaden, dass jedes Unternehmen über diese Grundgedanken und deren Verankerung in seiner arbeitsalltäglichen Praxis reflektiert. Das agile Unternehmen zeichnet sich aus durch Mut, Commitment, Einfachheit, Fokussierung, Offenheit, Respekt oder Kommunikation.

Und das sind doch keine neuen Bestandteile einer Unternehmenskultur! Sie müssen nur wieder verstärkt in den Blick der Unternehmen rücken. Und wer diesen genauen Blick auf die eben genannten Werte wirft, der wird erkennen, dass sie auch klassische Werte von Start-up-Unternehmen sind – also Werte aus der Zeit der Gründungsphase, in der man innovativ sein musste. Ohne diese Werte wäre nämlich „damals“ kein Überleben und kein Übergang in die Betriebsphase möglich gewesen. Doch diese beiden Phasen lösen sich in dramatischer Weise auf. Die Voraussetzungen von Mensch und Unternehmen gleichen sich also an – wir pubertieren permanent.

Die Forderung nach der agilen Organisation bedeutet letztendlich nichts anderes, als die Pubertät beizubehalten. Und wenn die Pubertät beibehalten wird, dann ist ein wie auch immer geartetes Changemanagement überholt. Agilität ist Pubertät. Und Pubertät ist Change oder Changemanagement. Insofern müsste es eigentlich nur noch einen einzigen Change geben, den allerletzten Change: Hin zur agilen oder lernenden Organisation.

Doch das wird noch lange dauern. Denn das Gewohnte, das Etablierte, das Bekannte und das Liebgewonnene weiß man zu verteidigen; auch wenn die welt- und gesellschaftsverändernden Innovationen ringsherum nur noch so niederprasseln. „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird“ wird gerne zitiert. Das stimmt natürlich. Aber um im Kochen-Bild zu bleiben: Es ist nur die Frage, ob man dann überhaupt noch an den Tischen sitzt, an denen gegessen wird. Und wenn nicht, dann ist es egal, wie heiß gekocht wurde. Denn selbst Marx erkannte schon vor vielen Jahrzehnten: „Alles Ständische und Stehende verdampft“. Und wer wird von Dampf schon satt?